Feinfühligkeit


Säuglinge und in einigen wenigen Fällen auch noch Kleinkinder fühlen sich nur dann in Sicherheit, wenn sie sich darauf verlassen können, von einer kompetenten Elternfigur betreut zu werden. Deren Verfügbarkeit sorgt dafür, dass das Kind eine sichere Basis hat, von der aus es sicher erkunden und so lernen kann. Das Wort «Sicherheit» (lat.: sine cura) bedeutet «ohne Sorge» oder «ohne Angst». Der Begriff der Feinfühligkeit (maternal sensitivity) wurde durch Mary Ainsworth geprägt und bezeichnet die Qualität der Reaktion einer Bezugsperson, durch die diese die frühkindliche Bindung beeinflussen kann. Beobachtet wird, dass Kleinkinder mit denjenigen Bezugspersonen die stärksten Bindungen eingehen die feinfühlig mit ihnen umgehen.

Komponenten der Feinfühligkeit:

  1. Die Wahrnehmung der Signale des Kindes.
    Die Bezugsperson ist aufmerksam, nimmt auch nonverbale Äusserungen des Kindes wahr wie Mimik und Verhalten.
  2. Die richtige Interpretation der Signale
    Die Bedürfnislage des Kindes wird erkannt. Die Bindungsperson selbst bleibt in sich zentriert.
  3. Die angemessene Antwort
    Das Kind wird wahrgenommen und sein Verhalten ist wirksam
  4. Die prompte Reaktion
    Dem Kind angemessen: bei Angst Beruhigung, bei Langeweile die Anregung.


1. Wahrnehmung
Die Mutter muss hinreichend zugänglich gegenüber den Mitteilungen des Babys sein, bevor sie ihnen gegenüber einfühlsam sein kann. Dazu braucht es eine adäquate  Sensibilisierung, eventuell Betreuung der Mutter während der Schwangerschaft, unter der Geburt und im Wochenbett. (Mothering the Mother)

Die Verfügbarkeit ist die notwendige Bedingung für eine einfühlsame Wahrnehmung. Durch wiederholtes Erleben harmonischer Interaktionen mit der Mutter und dem Vater entwickelt schon das Ungeborene Erlebnisse der Sicherheit und erlernt so Fähigkeiten zur Selbstregulation
(siehe Pränatale Entwicklung / Gehirnentwicklung).
Bei der Geburt können die Babys aufgrund der extern vermittelten Regulierung ihrer primären Bindungsfiguren Empfindungen wie Affekte miterleben.
Postpartal basiert ein schnelles Eingehen auf die Umgebung auf einer Folge von Interaktionen mit einer Bindungsperson, von Gesicht zu Gesicht sowie von Körper zu Körper.

 

Säuglinge und Kleinkinder reagieren automatisch auf sensumotorische und affektive Signale, sie unterliegen noch nicht der Steuerung durch die Kognition. Ein Säugling ist ein subkortikales Wesen, es kann sein Verhalten noch nicht modulieren. Deshalb auch ist ein «Verwöhnen durch Tragen» in den ersten 9 Monaten nicht möglich. Die feinfühlige Mutter nimmt auch die subtileren Kommunikationen, Signale, Wünsche und Launen wahr.

 

2. Interpretation
Richtige Interpretation bedingt eine störungsfreie Wahrnehmung und Einfühlungsvermögen. Eine unaufmerksame, ignorierende Mutter ist oft unfähig, die Signale des Babys richtig zu interpretieren. Sie reagiert nicht auf die frühen Signale und nimmt den zeitlichen Kontext des Verhaltens nicht wahr. Mütter, die eine beeinträchtigte Wahrnehmung haben, tendieren beim «Lesen» ihres Babys zu Interpretationen, die ihren eigenen Wünschen, Launen und Phantasien entsprechen.

3. Antwort
Eine angemessen antwortende Mutter kann die Signale von Übererregung, übermässiger Spannung oder beginnender Verzweiflung wahrnehmen und verändert Tempo oder Intensität, bevor es zu weit geht. Je nach Charakter des Kindes muss es angeregt, wenn es sich langweilt, oder beruhigt werden. Die angemessene Interaktion ist gut strukturiert, abgerundet und vollständig. Je älter die  Babys sind, desto mehr muss eine feinfühlige angemessene Antwort nicht unbedingt einer vollständigen Fügsamkeit gegenüber dem Wunsch des Babys entsprechend – obwohl sehr häufig ein Einwilligen in den Wunsch die angemessenste Antwort sein kann.

4. Promptheit  
Das Signal des Babys erfordert eine promptes Antwort, für das Baby muss ein Zusammenhang mit seiner Regung wahrnehmbar sein. Zur Feinfühligkeit gehört die prompte Reaktion auf die ausgestreckten Arme des Babys, auf sein aufgeregtes Grüssen, auf sein Lächeln oder seine zärtlichen Berührungen. Weniger feinfühlige Mütter nehmen vieles am Verhalten ihres Kindes nicht wahr, entweder weil sie das Baby ignorieren oder weil sie die feineren Kommunikationen nicht bemerken, oder sie können sich nicht einfühlen.

Fazit
Die Fürsorge der Bezugsperson, der sensorische Kontakt und die Qualität des physischen Umgangs mit dem Kind verbinden bei diesem physische und mentale Erlebnisse und schaffen so die Grundlage für die Entwicklung der Fähigkeit der Selbstregulierung. Bion benutzt den Begriff Containment, Schaffen einer psychischen Umgebung, welche die Entwicklung der Selbstregulierungsfähigkeiten des Kindes fördert.  

Achtsamkeit
Führt zu tiefer Einsicht
und zum Erwachen
(Schlüssel zum Zen)

 

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