Die alltägliche Krisenintervention


Was bedeutet es wenn Eltern sich den alltäglichen Anforderungen in der Begleitung ihrer weinenden Babys nicht mehr gewachsen fühlen? Was heisst es, wenn ein Säugling ohne Unterlass schreit und die Eltern in einen Zustand der Ohnmacht und Überforderung gelangen? Die anhaltende Stresslage verhindert ein tieferes Verstehen des Kindes und seiner Körpersprache. Durch sein Knorzen und Schreien steigert sich die ängstliche Erwartungsspannung. Mutter: Ihr Atem ist verflacht, ihr Blickkontakt ist weniger zugewandt, der Körper fühlt sich weniger weich und kuschelig an und auch ihre Stimme hat nicht mehr den weichen Klang. Kind: Dem Baby gelingt es nicht mehr, den akuten Anspannungszustand zu verlassen.

Die Schwächung der Bindungsbereitschaft, die erhöhte Körperspannung und anhaltende Stress- und Angstzustände bei Eltern und Kind sind untrennbar verwoben und grundlegende Kennzeichen der postpartalen Krisendynamiken. Viele dieser Mütter berichten über ihre Gefühle der Hilflosigkeit, Wut, Enttäuschung, die sie im Kontakt mit ihren Säuglingen erleben, seit Tagen und Wochen erlebt haben. Sie kommen in eine Angst- und Erschöpfungsspirale. Sie finden den innigen Zugang zu ihrem Kind nicht mehr.

Sie fühlen sich nicht mehr verstanden. Entweder werden sie (von professionellen Helfern) vertröstet, dass es sich bei der Schreiproblematik um ein vorübergehendes Entwicklungsphänomen («Dreimonatskolik») handle, dem nicht zu viel Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Oder aber man hält die Reaktionen der Eltern in diesen Krisen insgesamt für übertrieben und sucht darin die Ursache für das Problem. Im Endeffekt fühlen sich viele Eltern mit ihren Fragen alleingelassen, beschämt und isoliert.

Wie fühlen sich diese Mütter? Wiederholte Erfahrung, ihrem Baby nicht zur Seite stehen zu können  erzeugt Hilflosigkeit, Ohnmacht, Verzweiflung. Ratschläge der Hilfspersonen waren eher Schläge. Es plagen sie auch Ängste, Enttäuschung und Schlafmanko. Zum Teil auch Wut und Hassreaktionen. Viele Mütter klagen auf Nachfrage über Schmerzen, Enge in der Herzgegend, Krämpfe im Bauch, Verspannungen im Rücken.  

Solche Regulationsstörungen der erwachsenen Bezugsperson entstehen auch

  • durch Paarkonflikte,     
  • mangelnde Unterstützung im familiären Umfeld, aber ebenso durch den
  • Druck anhaltender finanzieller Notlagen


Oder die jetzigen Eltern haben in ihrer eigenen Kleinkindzeit einen Mangel an Bindungssicherheit erfahren.
    
Was machen die Eltern konkret? Sie bewegen sich viel, verschaffen sich Kontakt mit dem unruhigen Kind indem sie sich viel bewegen. Es gibt aber einen Zusammenhang zwischen einer Schwächung des Bindungserlebens und erhöhter Motorik. Wir schützen uns unbewusst vor der Angst und Unlust, indem wir die Verbindung zum eigenen Körper und zu unseren Gefühlen durch eine ständige leichte Anspannung dämpfen. In letzter Konsequenz führt die Verabreichung des Ersatzkontaktes zu einer fortschreitenden Unterdrückung der kindlichen Notsignale.  

Durch das Schreien macht das Baby darauf aufmerksam, dass seine wichtigsten Bedürfnisse nicht hinreichend befriedigt sind:

  • Hunger, Durst
  • Seine körperliche Integrität gefährdet ist, evtl. Schmerz
  • Eine Übersättigung an Reizen vorliegt und der sichere Kontakt zu seinen primären Bezugspersonen unzureichend gewährleistet sind.


Die dauerhafte Störung der emotionalen Verbindung zwischen Eltern und ihren Säuglingen schafft erst jenen Nährboden, der das Auftreten der psychischen und psychosomatischen Symptome ermöglicht. Exzessives Schreien, Hypermotorik oder anhaltende Schlafstörungen des Kindes, oder aber der blinde Aktionismus des involvierten Helfersystems verstärken die Verzweiflung. Wir müssen prospektiv im Wochenbett auf die Schreidynamik aufmerksam machen und sie begleiten.

 

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ARTIKEL / KINDERÄRZTE SCHWEIZ: Schreien des Kindes im Kontext von Bindung und Beziehung (3/2018)
Wenn aus dem ersehnten Geburtsschrei in den nächsten Tagen, Wochen oder sogar Monaten ein untröstliches, lang andauerndes Schreien oder Weinen wird, kommen die Eltern oft an ihre Grenzen und darüber hinaus. Diese Überforderung führt meist zum Verlust der emotionalen Verbundenheit mit ihrem Kind. Wie können wir sie in dieser Situation unterstützen? Wie können wir ein Verständnis dafür wecken, dass nicht jedes Schreien Hunger oder Bauchweh bedeutet? Grundsätzlich haben wir uns Gedanken gemacht, ob wir von «Schreien» oder «Weinen» reden sollen und haben uns entschieden, beide Begriffe zu verwenden, obwohl die Eltern meist «Schreien» verwenden, wenn sie uns von ihren Nöten berichten. [Co-Autorin: Helen Zimmermann, Seuzach, EEH-Fachberaterin, Pflegefachfrau HF KJFF]
Dr_med_Luedin_KinderAerzte_Schweiz_3_201
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ARTIKEL / KINDERÄRZTE SCHWEIZ: Schreien aus der Sicht des Kindes (2017)
Der erste Schrei unmittelbar nach der Geburt löst bei den Anwesenden Glücksgefühle
und Erleichterung aus. Ganz anders Stunden oder Tage nach der Geburt. Das Schreien eines
Säuglings lässt niemanden, insbesondere aber die Eltern nicht, unberührt. Das Schreien
versetzt sie in Alarmbereitschaft, und je länger dies dauert, desto unerträglicher wird die
Situation.
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