Das Autonome Nervensystem: Die Polyvagal-Theorie


Fühlen wir uns sicher? Gefahr im Raum? Oder sind wir vielleicht gar in einer lebensbedrohlichen Situation? Sinnesinformation aus der Umwelt erlaubt dem Nervensystem, ständig das bestehende Risiko wahrzunehmen. Prof. Dr. Stephen W. Porges von der Universität Illinois in Chicago stellt mit seinem System der Neurozeption die These auf, dass unser Autonomes Nervensystem sich immer auf eine dieser drei Ebenen ausrichtet. Er ist heute davon überzeugt, dass der Parasympathikus zweigeteilt ist in einen dorsalen und einen ventralen Vagus.

Porges untersuchte in seiner «polyvagalen Theorie» das komplexe Zusammenspiel  von parasympathischem und sympathischem Nervensystem. Das autonome Nervensystem ist nicht nur ein peripheres neurales System, es beinhaltet auch Hirnstammstrukturen, die den Zustand der Eingeweide überwachen und die Leistung der mit den Eingeweideorganen (zum Beispiel Herz, Lunge, Darm etc.) kommunizierenden autonomen Nerven kontrollieren.
Durch neurale Leitungen beeinflussen afferente (hinbringende) Informationen von den Eingeweiden die höheren Hirnstrukturen. Der Zustand der höheren Hirnstrukturen beeinflusst seinerseits die neurale Einspeisung an die Eingeweide.

Unabhängig vom Bewusstsein schätzt das Nervensystem Gefahren der Umgebung ein und steuert den Ausdruck adaptiven Verhaltens, um es der Neurozeption einer Umgebung anzupassen, die als ungefährlich («sicher»), gefährlich oder lebensbedrohlich eingeschätzt wird.
Selbst wenn kognitiv kein Grund zur Angst erkennbar ist, kann der Körper völlig anders reagieren. Wir spüren plötzlich ein stark pochendes Herz oder beginnen sichtbar zu zittern oder werden Rot im Gesicht. Andere erbleichen, ihnen wird schwindlig und manche fallen plötzlich in Ohnmacht.

 

Der polyvagalen Theorie zufolge existieren drei hierarchisch organisierte Subsysteme des autonomen Nervensystems, die unsere neurobiologischen Reaktionen auf Stimulation aus der Umgebung beeinflussen:

1. Der ventral-parasympathische Zweig des Vagusnervs: für das System soziales Engagement
2. Das sympathische System: Mobilisierung (Kampf-Flucht-Verhalten)
3. Der dorsal-parasympathische Zweig des Vagus: Immobilisierung (Erstarrung)

 

Drei Verhaltensstrategien:


1. SICHERHEIT: System soziales Engagement (social engagement system)

Das komplexeste der Subsysteme ist der ventral-vagale, myelinisierte Zweig des Vagusnervs, Ursprung im Nucleus ambiguus des Hirnstammes, einem von mehreren winzigen Bereichen spezialisierter Neuronen, die zusammen das retikuläre Aktivierungssystem bilden. Dieses System entscheidet darüber, wie bewusst oder wach ein Mensch in jedem beliebigen Augenblick ist.

Schon dem Neugeborenen steht das Handlungssystem soziales Engagement zur Verfügung und gelangt zum Ausdruck, wenn das Baby lautiert, weint, grimassiert oder lächelt, gurrt, guckt, um mit der Betreuungsperson zu interagieren. Durch wiederholtes Erleben harmonischer dyadischer Interaktion mit der Mutter oder dem Vater entwickelt das Kind Erlebnisse der Sicherheit.

Die Neurozeption erklärt, warum ein Baby bei einer vertrauten Betreuungsperson zufrieden gurrt und bei der Annäherung eines Fremden brüllt. Oder warum ein Kleinkind eine sanfte elterliche Umarmung geniesst, dieselbe Geste bei einem Fremden jedoch als Angriff erlebt.

Das System soziales Engagement umfasst eine Kontrollkomponente, die sich im Kortex befindet (Bereich ob. Motoneuronen) befindet und folgende Systeme beeinflusst:

  • Öffnung der Augenlider – das Sehen
  • Die Gesichtsmuskeln – emotionaler Ausdruck
  • Die Muskeln des Mittelohes – Filtern Stimmen aus den Hintergrundgeräuschen
  • Den Kaumuskel – Nahrungsaufnahme, Verdauung
  • Kehlkopf- und Rachenmuskeln – Bsp. die Prosodie
  • Das Zur-Seite-Neigen des Kopfes und das Drehen durch die Hals-Muskeln – soziale Gesten und Orientierungsreaktion


Diese somatomotorische Komponente wird von folgenden Hirnnerven vermittelt:  V, VII, IX, X, XI

Das  System soziales Engagement:  

  • ermöglicht ein schnelles Eingehen auf die Umgebung und auf Beziehungen sowie die rasche Abwendung von ihnen durch Regulierung der Herzfrequenz, ohne Notwendigkeit der Mobilisierung des sympathischen Nervensystems.
  • Es fördert den Wechsel in ruhigere, flexiblere und somit adaptivere Allgemeinzustände. So können wir Gesichtsausdrücke lesen, Zuhören oder Vokalisieren)
  • In nicht-bedrohlichen Kontexten reguliert es das sympathische Nervensystem, es hilft uns, uns auf die Umgebung einzulassen, und es hilft uns, positive Bindungen und soziale Beziehungen zu entwickeln.

 

Selbst wenn eine akute Bedrohung besteht, kann ein Mensch mit guter Anpassungsfähigkeit sein System soziales Engagement nutzen, indem er zum Beispiel versucht, mit einem potentiellen Angreifer ins Gespräch zu kommen (kommunikative Flexibilität).

 


2. GEFAHR: Das sympathische System, die Mobilisierung
Die Aktivierung des sympathischen Nervensystems, primitiver und weniger flexibel als das System soziales Engagement, erhöht im Falle einer Bedrohung das Arousal und aktiviert Überlebensmechanismen. Akute Gefahr: Die Amygdala gibt das Alarmsignal, der Hypothalamus schaltet das sympathische NS ein, wodurch neurochemische Stoffe ausgeschüttet werden, die das Arousal erhöhen. Die Atmung wird beschleunigt, die Muskeln durchblutet, die Blutzufuhr zum Kortex verringert.

Das Hyperarousal ermöglicht uns, viel Energie und Kraft erfordernde Kampf-/Flucht-Aktivitäten auszuführen. Bei chronischem Zustand beeinträchtigt es allerdings die Fähigkeit zu adaptiven Entscheidungen, das Verhalten wird reflexhaft und impulsiv. Wenn weder System soziales Engagement noch Kampf-Flucht-Reaktionen (Sympathikus) die Sicherheit gewährleisten, tritt der dorso-vagale Komplex, als nächste Verteidigungslinie in Aktion:


3. LEBENSBEDROHUNG: Das Immobilisierungs-System
Der dorsale Zweig des Vagusnervs, der nicht mit einer Myelinschicht umgebene Vagus, der ebenfalls am dorsalen Motonucleus des Vagus im Hirnstamm entspringt, ist das primitivste unter diesen Systemen. Er wird durch Hypoxie aktiviert und bewirkt eine Immobilisierung (Überlebenssicherung) in Form von Totstellen, Reglosigkeit und Ohnmachtszuständen.

Durch chronische Immobilisierung entstehen häufig somatoforme dissoziative Symptome wie etwa motorische Schwäche, Lähmungserscheinungen, Ataxie und Störungen der Wahrnehmung innerer Körperempfindungen wie Amnesie, Verwirrungszustände und Aufmerksamkeitsdefizite.  

Viele Körperfunktionen werden eingeschränkt, was zu einem relativen „Absinken der Herz- und Atemfrequenz führt und sich im Geist in einem Gefühl von Taubheit und Verschlossenheit“ und einer Distanzierung (bzw. Dissoziation) vom Selbstempfinden oder in Panik niederschlägt. Kann Bradykardie, Apnoe und Herzrhythmusstörungen provozieren. Diese assoziierten Defizite sind oft verwirrend und sie werden häufig als Depression, Widerstand oder passiv-aggressives Verhalten missverstanden.

Im Übrigen:
Das Neugeborene ist zu Beginn seines Lebens von seinen sensumotorischen Fähigkeiten abhängig (Bsp. Laute hervorbringen, sich bewegen), um mit seiner Umgebung interagieren zu können. Es kommt zur «Affekt-Synchronie» von Körper zu Körper, von Gehirn zu Gehirn. Die Mutter passt Modus, Stärke, Varianz und den Zeitpunkt des Beginns und das Ende der Stimulation den Integrationsfähigkeiten des Kindes im jeweiligen Augenblick an.

Es gibt ein Bleiben im Gehen,
ein Gewinnen im Verlieren,
im Ende einen Neuanfang.
Aus Japan

 

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